Carolina Zornik stand schon als Kind gerne auf Bühnen, lernte Gesang und Ballett und spielte im „Jungen Staatstheater” in Kassel. Jetzt ist sie Schauspielschülerin und steht kurz vor ihrer bisher größten Prüfung – und das nicht ganz ohne Sorgen.

“Tschechow spielt man anders! Viel weniger schwer!”, kritisiert der Dozent. Die 21-Jährige schaut ihren Spielpartner mit großen Augen an. Er spiegelt ihren Blick. Noch 72 Stunden bis zur Premiere, bis zur Prüfung, und sie müssen die ganze Szene anders einstudieren. Auf dem Nachhauseweg stapft Caro stumm durch die Kasseler Innenstadt.

Caro ist 1,75 Meter groß, hat eine sportliche Figur und platinblondes, langes Haar. Sie trägt eine blaue Jeans, schwarze Stiefel und ein weißes Tanktop, ihre dünne Lederjacke hängt am Kleiderhaken. “Ich werde meistens als die Warmherzige, Schöne gecastet”, erzählt sie. Caro ist im dritten Semester an der Schauspielschule Kassel, einer staatlich anerkannten Privatschule. Die Hälfte der Ausbildungskosten, etwa 340€, trägt dabei der Staat. “Das ist der Mittelweg zwischen einer privaten Schauspielschule, die circa 800€ monatlich kostet, und einer staatlichen Uni, wo man nur 75€ Semestergebühren bezahlt, aber ohne Kontakte fast unmöglich reinkommt”, begründet sie ihre Entscheidung.

Zwei Tage später, zwei Stunden vor der Generalprobe. Caro hustet. Sie rührt zwei Löffel Honig in ihren Tee und zwei weitere in ihren Bananenjoghurt. Auf dem Weg zur Schauspielschule biegt sie in den Drogeriemarkt ab und kauft schnellen Schrittes Kajal, Puder und Hustenbonbons. Bei ihrer Ankunft im Bühnenraum hat sie bereits das zweite im Mund. Ihre Mitschülerin hustet auch. Der Dozent vor Ort bezeichnet die Anwesenden immer wieder als “Elevinnen” und “Eleven”, was so viel wie “Schauspielschüler*innen” bedeutet.

Noch 45 Minuten bis zum letzten Durchgang. Caro ist gleich als erste dran. Sie trägt Make-up auf, zieht die weiße Bluse und die gläserlose Pilotenbrille an und knotet ihr langes, platinblondes Haar zu einem strengen Dutt, aus dem sie mit scharfem Blick in den Spiegel einige Strähnen wieder herauszieht. „Der aufgeriebene Look ist wichtig für die Rolle, sie ist eigentlich sehr organisiert, aber stößt in der Szene an ihre Grenzen.”

Sie rennt in ihrem langen, schwarzen Rock hin und her, macht Ausfallschritte. “Affentheater. Apfeltasche.” Jetzt flüstert Caro. “Schwangerschaftstest. Schwangerschaftstest.” Ihre Mundwinkel bewegen sich ungewohnt stark, während sie einen Zungenbrecher aufsagt. Eine Mitschülerin fragt sie nach einem Hustenbonbon, während sie sich aufwärmt. Caro zeigt ihr einen Daumen nach oben und lächelt.

“Change!”, ruft der Dozent. Die insgesamt zehn Elev*innen stehen im Kreis, als Caro plötzlich ihr Gegenüber anschreit. In ihrem Kostüm sieht sie aus wie eine Lehrerin, was überhaupt nicht zu den Schimpfwörtern passt, mit denen sie jetzt um sich wirft. Das ist nicht Caros Text, nicht Caros Rolle, die sie gerade verkörpert. Sie spielt einen völlig anderen, ihr unbekannten Monolog, um nicht zu sehr an ihrer eigenen Rolle zu “klammern”, wie sie es nennt.

Noch sechs Minuten bis Probenbeginn. Caro geht hinter die Bühne, schaut sich noch einmal im Spiegel an und richtet einzelne Strähnen in ihrer Frisur. Sie geht schon einige Zeit vor Beginn auf die Bühne und nimmt als “Olga” ihren Platz an der Schreibtischrequisite ein. “Dann schreibe ich irgendwas auf, meistens ausgedachte Klassenlisten, um komplett in die Rolle zu kommen.”

Startschuss für die Szene. In Tschechows “Drei Schwestern” spielt Caro die älteste Schwester Olga, eine strenge Lehrerin am Ende ihrer Kräfte. Neben ihr im Scheinwerferlicht stehen die beiden Schwestern, der Bruder und dessen Frau. Fünf Leute, der halbe Jahrgang, streiten laut auf der Bühne. “Es ist Schlafenszeit!”, befiehlt Olga letztendlich scharf und geht zur linken Seite ab.

Hinter der Bühne ist Caro allein. Ein langes, beiges Kleid und das dazugehörige Outfit aus Mantel, Absatzschuhen und Schal liegen bereit. Sie zieht sich um, während andere Mitschüler*innen auf der Bühne eine neue Szene spielen. Caro öffnet den Dutt und lässt die Haare offen über ihre Schultern hängen. Sie spielt gleich eine völlig andere Person. Eben war sie noch Olga, jetzt wird sie zu “Nina” aus einem anderen Stück Tschechows – einer “gebrochenen jungen Frau”, wie Caro ihre Rolle bezeichnet. Sie schaut immer wieder zwischen den dicken, schwarzen Vorhängen hindurch auf die Bühne und beobachtet die Vorstellung der anderen.

Nina betritt die Bühne von links, geht an einem Stuhl vorbei und wirft ihren Mantel über die Lehne. Es folgt ein unangenehmes Wiedertreffen, ein emotionaler Dialog, ein Schockmoment. Nach einem niederschmetternden Monolog über ihre erloschene Liebe lässt sie ihren Ex-Partner allein im Licht zurück.

Wieder steht Caro allein hinter der Bühne, aber sie muss heute nicht mehr hinauf. Abseits des Proberaums schaut sie lange ins Nichts, bevor sie ein eigenes Fazit zu ihrem Auftritt zieht: “Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden. Aber besser machen kann man’s natürlich immer.” Noch etwa 22 Stunden bis zur Premiere, die die Abschlussprüfung dieses Semesters darstellt. Caro geht auf und ab und murmelt die Texte beider Rollen vor sich hin. Sie überspringt manche Passagen, wiederholt einige Einstiege und prägnante Stellen zwei, drei, viermal.

Jetzt trägt sie kein Kostüm mehr. In Zip-Hoodie und Jeans läuft Caro unter den Straßenlaternen entlang zum Staatstheater. Sie spielt dort als Statistin in einem Stück mit. „Das macht mir einfach Spaß und man lernt natürlich auch viel näher kennen, wie es als Profi dann wirklich läuft.“ Bis kurz nach 22 Uhr verschwindet Caro in dem großen, eckigen Glasgebäude, das zu dieser Uhrzeit den fast menschenleeren Friedrichsplatz in warmes Licht taucht.

Zwölf Stunden Schlaf später. “Ich bin total entspannt, aber irgendwie noch nicht wirklich wach”, klagt Caro lachend. Ihre Mitschüler*innen stimmen ihr zu, alle sind ein wenig aufgeregt. Sie beschließen, Getränke für die Premierenfeier heute Abend zu kaufen, “als Wachmacher”. Mit reichlich Sekt, Wein, Säften und Softdrinks kehren die Drittsemester im Bühnenraum ein. Caro inspiziert jedes Kostüm, legt alles bereit, hilft beim ordentlichen Aufstellen der Requisiten. Sie rückt noch mehrmals am Schreibtisch, bevor sie zufrieden lächelt.

Noch etwa eine Stunde bis zur Premiere. Heute wärmt sich Caro in der Gruppe auf. Die gleichen Ausfallschritte im Rock und das gleiche Zungenbrecherflüstern wie am Vortag sind Teil der Übungen. Heute setzt sich Olga bereits zehn Minuten vor Szenenbeginn an den Tisch und schreibt Fantasienamen auf.

Die Lehrerin steht am Rande der völligen Erschöpfung im Streit mit ihren beiden Schwestern. Caro ist Olga. Ihre Emotionen wirken roh und echt: “Du, Mascha, bist dumm. Du bist die Dümmste in der ganzen Familie! Verzeih bitte.”

Als Nina die Bühne von der linken Seite betritt, steht der Stuhl rechts. Das war in den Proben anders, aber sie geht im Laufe des Szenenbeginns zu ihm herüber und hängt den Mantel über die Lehne, fast wie eingeprobt. “Das war schon ein komischer Moment, weil sich die Laufwege ändern und man umdenken muss. Aber sowas bringt einen nicht raus, das gehört einfach dazu“, erklärt Caro im Nachhinein.

“Ich liebe ihn sogar noch stärker als früher.” Nina verpasst ihrem ehemaligen Geliebten den Gnadenstoß und taucht im Schwarz der Bühnenvorhänge unter. Caro seufzt einige Male, während sie noch voll kostümiert eilig zum Bäcker schräg gegenüber läuft. Sie bestellt ein Gebäckstück mit Schafskäse und isst es hastig auf dem Rückweg zur Schule.

Zum Applaus steht sie mit ihren Mitschüler*innen wieder auf der Bühne. Die langen, blonden Locken berühren fast den Boden, als sie sich gemeinsam verbeugen. Das vierzigköpfige Publikum verlässt die Tribüne des hellen Raums, dessen weiße Säulen ihn vom vollkommenen Schwarz der Bühne abgrenzen. Die Elev*innen und einige Dozent*innen räumen Stühle aus dem Weg und schaffen Platz.

Caro trägt nun ein schwarzes, körperbetontes Kleid, das sie extra für diese Premierenfeier mitgebracht hat. Die Prüfung ist bestanden, die Premiere lief fast wie geplant. „Ich bin erleichtert, jetzt kann ich durchatmen.“ Aus den Boxen ertönt “Stumblin’ In” von Suzi Quatro und Chris Norman. Caro grinst und stößt mit ihrem Spielpartner an. Er schaut sie an und lacht ebenfalls: “Da haben wir Tschechow wohl am Ende doch ganz gut gespielt.”

Fotos: Karl-Heinz Mierke

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